561. Gott, wie die tage mir verschwinden!

1 Gott, wie die tage mir verschwinden!
Gleich einem strom stürzt meine zeit,
Von lastern faul und tr¨b von sünden
Ins meer der langen ewigkeit.
Drum, mein Erlöser, bitt' ich dich:
Bekehre mich! bekehre mich!

2 Ich wandle, erde auf der erde,
Nur als ein gast und pilgrm bin;
Ich weiß es, daß ich sterben werde,
Auch wenn ich nicht bekehret bin.
Darum, Erlöser, bitt' ich dich:
Bekehre mich! bekehre mich!

3 Geh' ich mit zitterenden füssen
Vor eine offnen gruft vorbey;
So sagt mir donnernd mein gewissen,
Daß ich ein sclav der laster sey.
Darum, Erlöser, bitt' ich dich:
Bekehre mich! bekehre mich!

4 Mich dünkt, daß mir der schall der glocken
Mit jedem dumpfen schlage droht;
Ich fahre auf und ganz erschrecken
Fühl' ich in jeder ader tod.
Darum, Erlöser, bitt' ich dich:
Bekehre mich! bekehre mich!

5 Ich sinke, wenn man eine leiche
Vor meinem blick vorüber trägt,
Zur erden nieder wie die eiche,
Wenn sie der donner niederschlägt.
Darum, Erlöser, bitt' ich dich:
Bekehre mich! bekehre mich!

6 Wie die verwilderte gebehrde
Des todtengräbers mich erschreckt!
Wenn er mit einer schaufel erde
den leichnam eines freundes deckt.
Darum, Erlöser, bitt;' ich dich:
Bekehre mich! bekehre mich!

7 Ein weisser schedel ohne augen,
Ein fauler sarg, ein todtenbein,
Ein fleisch woran noch würmer saugen
Kan erwas schuervoller seyn?
Darum, Erlöser, bitt' ich dich:
Bekehre mich! bekehre mich!

8 Weint an der gruft, gedrängt vom schmerze,
Der traurende sein leid heraus;
so blutet mein beklemmtes herze
Vorzweiflungsvolle thränen aus.
Darum, Erlöser, bitt' ich dich:
Bekehre mich! bekehre mich!

9 Bin ich ein Christ? die Christen zittern
Doch sonsten vor dem tode nicht;
Sie sterben, ohne zu erschüttern
Vor grab, verwesung und gericht.
Denn wer sich vor dem tode scheut,
Ist der wohl reif zur ewigkeit?

10 Ach Gott! die sünden fesseln ziehen
Mich sclaven auf die breite bahn;
Drum fleh' ich dich auf meinen knien
Mit thränen um die gnade an,
Und diese thränen bitten dich:
Bekehre mich! bekehre mich!

11 Mein Vater! denn nun stellt der glaube
Dich nicht als meinen richter für,
Da lieg' ich ja, gekrümmt im staube,
Wie ein getretner wurm vor dir.
Auf meinem antlitz bitt' ich dich:
Bekehre mich! bekehre mich!

12 Ich stehe! meine knie wanken
Nicht mehr, denn jetzo fühl ich ihn,
Den wonnevollsten der gedanken,
Im tiefverwundten herzen glühn;
Er lispelt, die empfindung hört,
Ich bin bekhrt! ich bin bekehrt!

13 Da steh ich, wie auf einem thurme,
Und sehe in gelaßner ruh
Tief unter meinem fuß dem sturme
Des todes und der hölle zu,
Sie haben ja mein lied gehört;
Ich bin bekehrt! ich bin bekehrt!

Text Information
First Line: Gott, wie die tage mir verschwinden!
Language: German
Publication Date: 1826
Topic: Vom Tode und der Auserstehung; Death and Resurrection
Notes: Mel. Wer nur den lieben G.
Tune Information
(No tune information)



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